Die ehemalige Abteikirche St. Marinus und Anianus in Rott am Inn wurde 1757 bis 1763 von Johann Michael Fischer erbaut. 230 Jahre später waren die vielen Verformungsrisse nicht nur Schäden und störendes Beiwerk bei der Betrachtung des Gemäldes von Matthäus Günther, sondern halfen auch den Ingenieuren, die statischen Systeme zu begreifen.
Die Hauptkuppel – wie trägt sie wirklich?
Vom romanischen Vorgängerbau wurden Teile der Hauptmauern, die Chortürme und die in diesen enthaltenen Seitenschiffapsiden weiterverwendet. Der Nordturm wurde 1802 zur Hälfte abgetragen.
Der Längsbau besteht aus drei aneinandergereihten Zentralräumen mit gerade geschlossenem Chor.
Den großen mittleren Zentralraum schloss Johann Michael Fischer mit einer gemauerten Kuppel, aufgelagert auf acht Pendentifs. Entsprechend dem damaligen Stand des Wissens – man schrieb das Jahr 1760 und Poleni entwickelte gerade am Beispiel der gerissenen Kuppel der Peterskirche in Rom die ersten Ansätze der Gewölbestatik – versuchte er, die Stabilität seiner Konstruktion durch zusätzliche Gurtbögen auf der Gewölbeoberseite und durch eine Verdickung des unteren Gewölberandes zu verbessern.
230 Jahre später zeigte die Kuppel derart viele Risse, dass man deren Ursache klären wollte. Es wurde ein Untersuchungsgerüst aufgebaut und die Kuppel näher in Augenschein genommen.
Zahlreiche Risse durchzogen das Gemälde von Matthäus Günther; die meisten von ihnen nur Bruchteile von Millimetern breit, manche aber auch bis zu 8 mm. Letztere, sechs an der Zahl, konnte man auch ohne Einrüstung mit bloßem Auge erkennen: zwei Risse verliefen parallel zur Kirchenaußenwand in der gedachten Verbindungslinie zwischen Langhaus und Seitenschiffen, die übrigen vier oberhalb der Gurtbögen bzw. der Schildbögen.
Die vielen hundert kleinen Risse ergaben zunächst kein schlüssiges Bild. Risse folgen jedoch immer einem System: Sie treten nur dort auf, wo das Material die ihm zugemutete Belastung nicht mehr erträgt. Das innere Gefüge löst sich auf und es kommt zu Lastumlagerungen. Ergibt sich hierbei kein Gleichgewicht, so geht der Prozess der Auflösung weiter, bis die Konstruktion versagt. Streng genommen gilt diese Definition nur für Risse infolge einer Belastung von außen unter Änderung der Form. Im Folgenden werden solche Risse als Verformungsrisse bezeichnet, wobei als Form die gemauerte Konstruktion verstanden wird; je nach Ursache könnte man weiter differenzieren in Biegerisse, Schubrisse und Torsionsrisse.
Bezieht man sich bei der Definition eher auf den Mikrokosmos des Materials, können weitere Rissarten unterschieden werden, die eine Änderung dieser inneren Bindungen beschreiben: Korrosion, Hydratation oder Austrocknung können zu mikroskopischen Belastungen führen, die sich in Rissen ausdrücken. In unserem Fall wären die sogenannten Putzrisse zu erwähnen: zu schneller Wasserentzug z. B. an den Tragwerksgrenzen oder zu hoher Wassergehalt bei sehr hohem Bindemittelanteil führen zu Austrocknungsrissen. Im Folgenden werden diese Risse als Materialrisse bezeichnet.
Folgt man diesem Verständnis des Risses als Ausdruck einer Kraftumlagerung, so klärt sich das Bild auf: Verformungsrisse als Kennzeichen einer durch das Material nicht mehr aufnehmbaren Zugspannung verlaufen annähernd parallel zu den in einem Bauteil wirkenden Druckkräften. Will man also die Lastabtragung in einem Gewölbe verstehen, muss man nur alle Risse nach Verformungsrissen und Materialrissen gliedern. Dies erfolgte vom Gerüst aus: Jeder Riss wurde in Augenschein genommen, seine Rissbreite gemessen, teilweise auch seine Niveauunterschiede. Kartiert wurde jeder Verformungsriss mit mindestens 0,1 mm Rissöffnungsweite. Die Dokumentation erfolgte mit einem Tuschestift auf Folie über einer großformatigen Fotoaufnahme.
Unter Berücksichtigung der bekannten Restaurierungsdaten ließ sich die Verformung der Kuppel anhand der jeweiligen Kittungen auch zeitlich zuordnen: der Scheitelriss im westlichen Gurtbogen, z. B. zeigte 1867 eine Öffnungsweite von 1 mm, im Jahr 1961 von 2 mm und für das Jahr 1991 konnten 2,5 mm angegeben werden.
Was war geschehen? Bei einem Blick in den Dachraum kam viel zu Tage: Die Dachfußpunkte waren dem Echten Hausschwamm zum Opfer gefallen, das Dachwerk hatte sich abgesenkt und lag mit seinem ganzen Gewicht auf der Hauptkuppel auf. Bei Sturm und Schnee trugen nicht nur die Sparren und Dachstühle, auch die Hauptkuppel musste mithelfen. Johann Michael Fischer hatte sich dies sicherlich ganz anders vorgestellt.
Es war offensichtlich zu einer Umkehrung der Systeme gekommen: Nicht das Dachwerk hielt die Gewölbe zusammen, sondern die Gewölbe trugen die Dachlast. Dafür waren sie jedoch nicht gebaut. Das Gewölbemauerwerk entzog sich seiner Belastung und suchte ein neues Gleichgewicht, Risse entstanden.
Der Kräfteverlauf innerhalb einer Kuppel lässt sich nur als räumliches System behandeln. Alle Belastungen, ob durch Eigengewicht oder durch Auflasten, führen zu einer dreidimensionalen Kraftabtragung in der Kuppelschale. Wird der untere Rand der Kuppel starr aufgelagert, erzeugt das Eigengewicht eine gleichmäßige rotationssymmetrische Belastung vorwiegend durch Normal- und Schubkräfte. Kommt es allerdings zu einer ungleichmäßigen Auflagerung, entsteht ein komplexes dreidimensionales Tragsystem mit zahlreichen Einzelteilen, getrennt durch Risse. Ähnliches passiert auch bei einer einseitigen Belastung. So auch bei der Klosterkirche in Rott.
Eine statische Analyse solcher Systeme alleine ist auch heute mit den Möglichkeiten der modernen Statik und den entsprechend großen Computern nur schwer lösbar. Zerlegt man die Gewölbe in die durch die Risse vorgegebenen Einzelteile, so entstehen jedoch einfache und mit verträglichem Aufwand lösbare Systeme. Verformungsrisse sind also nicht nur Schäden und störendes Beiwerk bei der Betrachtung des Gemäldes von Matthäus Günther, sondern auch Hilfe für den Ingenieur:
Die Lasten der Hauptkuppel in Rott wurden offensichtlich nicht mehr radial abgetragen: Das nördliche und das südliche Kuppelsegment, die Gurt- und die Schildbögen hatten sich abgelöst und trugen sich alleine; der große Rest spannte im Wesentlichen in West-Ost-Richtung und trug mit Hilfe der Gurtbögen auf der Gewölbeoberseite die Lasten über die Pendentifs in die acht Pfeiler des Zentralraums. Das von Johann Michael Fischer gedachte Tragsystem der Verstärkungsrippen hatte offensichtlich doch geholfen – wenn auch nur zum Teil und mit erheblichen zusätzlichen Verformungen.
Umfangreiche statische Nachweise ergaben für den angetroffenen Zustand, also auch für die außerplanmäßige Belastrung durch das Dachwerk, ein Gleichgewicht. Ohne Lasten aus dem Dachwerk ließen sich sogar beachtliche Tragreserven nachweisen.
Der von vielen befürchtete Stahlbetonringanker zur Sicherung der Kuppel wurde nicht eingebaut. Die Kuppel wurde entlastet. Hierzu wurden die Dachwerke angehoben und die zerstörten Dachfußpunkte repariert. Zusätzliche Stahlanker halten heute den liegenden Stuhl in seiner Lage; ein Fischbauchträger stabilisiert die Hängesäulen. Das Dachwerk kann sich nun alleine tragen. Auch High-Tech hat Einzug gehalten in die historische Umgebung: Die Kuppel wurde von 1997 bis 2004 durch drei Lasermessgeräte (Entwickelt und betreut vom Geodätischen Institut der TU München) überwacht: rund um die Uhr und mit einer Genauigkeit von 0,1 mm.
Bis auf die notwendige Längenänderung durch die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht sowie zwischen Winter und Sommer zeigen sich keine Bewegungen …. hoffentlich noch lange.