Die Frauenkirche in Günzburg

Dominikus Zimmermann wusste wie man Kirchen voller Licht und Leichtigkeit baut. Doch Risse durchzogen das Gemälde von Anton Enderle. Die Frauenkirche kam auf den Prüfstand.

Das Dachwerk und seine Reparatur

Dachwerke sind Tragwerke. Tragen die Dachwerke nicht mehr, so müssen sie repariert werden.

Dominikus Zimmermann wusste wie man Kirchen voller Licht und barocker Leichtigkeit entwirft und baut. Barocke Illusion, so weit das Auge reicht. Vor der Instandsetzung war das nicht so. Der Innenraum war eher weiß als farbig und die Fassaden dunkelrot anstatt rosa. Im Dachraum zeugten zahlreiche Reparaturen von dem Versuch, die barocke Pracht der Deckenbilder zu halten: Mehrere Balkenlagen übereinander sollten weitere Verformungen der Zerrbalken behindern und die fortschreitende Zerstörung der Dachwerke stoppen. Auch zusätzliche Stahlkonstruktionen hatte man eingebaut. Doch die Reparaturen zeigten selbst große Schäden: Durch eindringende Feuchtigkeit und nachfolgenden Pilzbefall waren bereits viele Reparaturhölzer wieder geschädigt oder sogar vollständig zerstört. Zahlreiche neue Risse durchzogen die Gemälde des Anton Enderle, Verschraubungen mit großen Beilagscheiben sollten den Deckenputz und das Gemälde sichern.

Die Frauenkirche kam auf den Prüfstand. Es wurde gemessen und recherchiert, gerechnet und analysiert. Auch leichte luftige Räume, erfüllt vom Licht und offen zum Himmel, folgen nämlich den Gesetzen der Schwerkraft. Dachwerke, aufgehendes Mauerwerk und Gewölbe kann man zwar in ihren Dimensionen reduzieren – sie müssen jedoch trotzdem ihre statisch-konstruktiven Aufgaben noch erfüllen können. Zu der primären Aufgabe eines Dachwerks, der Lastabtragung ihres Eigengewichts, der einwirkenden Windkräfte und der Schneelasten, kommt noch die Aufgabe der Aussteifung des gesamten Bauwerks – als räumliches Tragwerk. Bei der Frauenkirche kommt noch eine dritte Aufgabe hinzu: Die Zerrbalkenlage des Dachwerks über dem Langhaus ist gleichzeitig die Deckenbalkenlage und damit Träger des Spantengewölbes.

1740 war sicherlich noch kein Ingenieur an der Planung beteiligt. Das Wissen von Dominikus Zimmermann und der Handwerksmeister stützte sich auf die Erfahrungen vieler vorangegangener Generationen. Durch die Evolution des Bauwissens – heute würde man sagen: „try and error“ – entstanden feste Regeln für Dachwerke oder für die Abmessungen von Wänden und Gewölben. Die Bauten des Rokoko zeigen die wohl verspieltesten und leichtesten Ausführungen in der Baugeschichte. Nach dem heutigen Ingenieurverständnis würde man die Frauenkirche als Minimalkonstruktion bezeichnen: so wenig Material wie möglich und in optimaler Form verarbeitet. Leider haben solche ausgeklügelten Konstruktionen einen Nachteil: versagt ein Bauteil, kommt es zu einer Kettenreaktion von Umlastungen, Verformungen und am Ende möglicherweise auch zu einem Einsturz. Die vielen früheren Reparaturen hatten einen Einsturz verhindert.

Bei den Untersuchungen der Fachleute kamen neben vielen kleinen und großen Schäden auch zahlreiche Defizite der statischen Systeme zu Tage. Zimmermann hatte die Statik des Dachwerks wohl unterschätzt: Ein Walmdach ist zwar gutmütig und ideal für die Aussteifung eines filigranen Mauerwerks, doch hierzu müssen auch alle Horizontalkräfte abgetragen werden. In Ost-West-Richtung hatte er diese wohl vergessen. Dass die beiden Walmbinder nicht ausreichend steif waren, hätte man vernachlässigen können, wenn die Auflager der beiden Walmseiten auf der Ost- und Westseite ausreichend stabil gewesen wären. Dem war jedoch nicht so: Pilze hatten alle Auflager des Dachwerks rund um den Turm vollständig zerstört. Dabei hatte sich der östliche Walm bis zu 25 cm abgesenkt und die Außenwände nach außen geschoben. In der Folge kam es dann wohl zu den Deformationen des Spantengewölbes und den großflächigen Schäden im Deckengemälde. Das Gewölbe im Chor hatte darunter weniger gelitten: Es war über die gesamte Breite selbsttragend konstruiert und nicht wie im Langhaus mit dem Dachwerk verbunden.

Die Dachwerke der Frauenkirche wurden repariert: meist querschnittsgleich und mit maximalem Erhalt der historischen Bausubstanz. Traditionelle zimmermannsmäßige Verbindungen mit geradem Blatt und schräger Brust, Verkämmungen oder Reparaturzapfen kamen ebenso zum Einsatz wie Stahlprothesen als Hilfsmittel überall dort, wo große Kräfte mit kleinen Hölzern abgetragen werden sollten. Zusätzlich wurden drei Dachbinder mit Stahlbändern zu Fachwerken ergänzt, die beiden Walmbinder mit vorspannbaren Holzfachwerken unterstützt und der östliche Walm auf einem großen Stahlfachwerk aufgelagert. Manches Detail hätte die Zimmerer vor 250 Jahren verwundert: Der moderne Stahlbau hat Einzug gehalten in die historischen Holzkonstruktionen.

Die Deckengemälde sollten vollständig erhalten werden. Während der gesamten Reparatur der Dachwerke durften sich die Gewölbe deshalb nicht weiter verformen, weder bei zusätzlicher Last nach unten noch bei einer Entlastung nach oben: Um dies zu gewährleisten, wurde die Dachdeckung nicht abgenommen und alle Reparaturen am Dachwerk unter der gesamten Auflast ausgeführt. Hierzu wurde ein sogenanntes MERO-Gerüst eingebaut, das aus verschraubbaren Rundrohren und Schraubkugeln zu einem steifen räumlichen Fachwerk zusammengesetzt werden kann. Nachdem Aufbau wurde das Traggerüst mitsamt dem entsprechenden Teil des Dachwerks und seiner Dachdeckung über Hydraulikpressen soweit angehoben, bis sich das Spantengewölbe um  2 mm entlastet hatte. Dieser Zustand wurde dann mittels Feinnivellement permanent überwacht und bei Bedarf nachjustiert. Sobald die Reparaturen am Dachwerk abgeschlossen waren, wurde dieses etwas angehoben, die Verbindungen kraftschlüssig nachgespannt und das Traggerüst abgesenkt. Die Reparaturen erfolgten abschnittsweise. Das Traggerüst wurde hierzu jeweils zerlegt, umgesetzt und wieder aufgebaut. Die maximale Verformung des Gewölbes betrug 10 mm für die gesamte Bauzeit, für alle Umbauten und Reparaturen.

Man muss heute schon genau hinschauen, will man den immensen Aufwand der Zimmerleute nachvollziehen: Vieles im Dachraum sieht aus, als sei es immer schon so gewesen: Sparren, Pfosten, Streben und Balken sind immer noch an derselben Stelle – nur das hellere neue Holz erinnert an die jüngsten Reparaturen.